Armin Grunwald

Auf dem Weg in eine nanotechnologische Zukunft
Philosophisch-ethische Fragen

Freiburg/München: Karl Alber Verlag 2008, Reihe: Angewandte Ethik, Band 10, ISBN 978-3-495-48327-5, 388 Seiten, 22.00 Euro
[Inhalt]   [Vorwort]


EINFÜHRUNG UND ÜBERBLICK

In die heutige zeitgeschichtliche Situation ist die Erfahrung der Ambivalenz von Technik tief eingelassen. Weder scheint ein unbeschwerter Fortschrittsoptimismus noch möglich, noch kann darauf verzichtet werden, in immer weiteren technischen Fortschritt Hoffnungen auf Lösungen der großen Probleme der Gegenwart zu setzen. In wohl keinem anderen Gebiet tritt dies so deutlich zutage wie in der Nanotechnologie.

1.1 Nanotechnologie in der Diskussion

Der Begriff der Nanotechnologie hat sich seit den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts als Sammelbegriff für eine Reihe avancierter Wissenschafts- und Technikrichtungen etabliert. Ihre Gemeinsamkeit besteht prima facie darin,[1]  gezielte Analyse und Manipulation in der Nanometer-Dimension (nm) zu erlauben, welche bislang dem technischen Zugriff verschlossen war.[2]  In der Größenordnung der Nanometerdimension liegen komplexe Moleküle wie die DNA, einfache Viren oder Oberflächenstrukturen. Die treibende Vision der Nanotechnologie ist die Idee des gezielten technischen Operierens auf der Ebene von Atomen und Molekülen. So trug das erste große US-amerikanische Nanotechnologie-Programm (NNI 1999) den bezeichnenden Titel "Shaping the World Atom by Atom".

Das gezielte Manipulieren von Materie in der Nanometerdimension bis hin zur atomaren und molekularen Ebene und, damit verbunden, die Erzeugung und Nutzung von neuartigen Materialeigenschaften eröffnen weit reichende Anwendungsmöglichkeiten. Besonders in der Oberflächenbehandlung, in neuen Materialien und Werkstoffen, in der Elektronik und in den Lebenswissenschaften bestehen hohe Erwartungen an die Nanotechnologie (z.B. Paschen et al. 2004). Von ihr wird ein bedeutender Einfluss auf den Güter- und Arbeitsmarkt des 21. Jahrhunderts erwartet (Luther et al. 2004); teils gilt Nanotechnologie gar als Grundlage einer dritten industriellen Revolution.

Nanotechnologie hat auf der Basis derartiger Erwartungen seit Beginn des Jahrzehnts auch eine Karriere als öffentlicher und medialer Begriff gemacht. Standen dabei in der gesellschaftlichen Debatte zunächst ausnahmslos die erwarteten positiven Eigenschaften im Mittelpunkt und galt Nanotechnologie lange als Synonym für positive Seiten des technischen Fortschritts, so hat sich - in einer pluralen Gesellschaft nicht überraschend - mittlerweile auch eine eigene Risikodebatte zur Nanotechnologie entwickelt. Dementsprechend sind sozialwissenschaftliche Untersuchungen angelaufen, haben Debatten über Regulierung von Nano-Materialien begonnen, wurden Fragen nach der Toxizität von Nanopartikeln gestellt (dazu Kap. 7) und ethische Überlegungen vorgenommen.[3]  Die auf der Nanotechnologie aufbauenden 'Converging Technologies' (Roco/Bainbridge 2002) werden immer stärker auf die Auswirkungen auf den Menschen fokussiert, wodurch die gesellschaftliche Debatte über Nanotechnologie auch zu einer generellen Diskussion über die Zukunft der Natur des Menschen (Habermas 2001) und über die Zukunft seines Verhältnisses zur Technik Anlass gab und gibt (Banse et al. 2007; vgl. auch Kapitel 9 in diesem Band).

In den frühen ethischen Arbeiten zur Nanotechnologie (ca. 2003) wurde vor allem der Bedarf nach Ethik in der und für die Nanotechnologie angemeldet. Die dort genannten ethisch relevanten Aspekte der Nanotechnologie zeugen von einer tastenden und durchaus noch unsicheren (bzw. positiv formuliert, offenen) Annäherung an dieses relativ neue Wissenschafts- und Technikfeld. Rasch wurde in diesem Zusammenhang der Begriff 'Nano-Ethik' ('Nanoethics') geprägt. Teils wird die Forderung nach einer neuen Disziplin 'Nano-Ethik' als Teildisziplin der Angewandten Ethik erhoben, teils wird aber genau dies von anderer Seite zurückgewiesen (vgl. hierzu Kap. 5). Hauptsächlich findet ethische Reflexion der Nanotechnologie zurzeit auf Workshops, in thematischen Sektionen auf den großen Konferenzen und Kongressen zur Nanotechnologie, in Sommerschulen, im Rahmen von Projektverbünden und in Form von Buchbeiträgen zu Sammelbänden statt. Die internationale Fachzeitschrift "Nanoethics. Ethics for technologies that converge at the nanoscale" erscheint seit 2007.

Auf der gesellschaftlichen Seite sind eine Vielzahl von Aktivitäten erfolgt oder laufen noch. Stellungnahmen von Nichtregierungsorganisationen (z.B. ETC 2003; BUND 2008) haben die öffentliche Debatte über Nanotechnologie herausgefordert. Zu den Aktivitäten von Verbänden gehört der Unterhalt von Arbeitsgruppen zu gesellschaftlichen Aspekten der Nanotechnologie, wie z.B. der Arbeitskreis "Responsible Production and Use of Nanomaterials" von DECHEMA und dem Verband der Chemischen Industrie (VCI), sowie die Durchführung von Workshops und öffentlichen Veranstaltungen. Internationale Organisationen wie die Europäische Kommission und die UNESCO haben sich des Themas angenommen, Expertengruppen mit der Erarbeitung von Stellungnahmen befasst und Dokumente publiziert (vgl. Nordmann 2004 und EGE 2005 für die EU-Kommission; ten Have 2007 für die UNESCO).

Allerdings wirft der Gegenstand ethischer Reflexion zur Nanotechnologie, nämlich das Feld der Nanotechnologie selbst, Definitionsprobleme auf (dazu Kap. 2.3). Insbesondere ist Nanotechnologie bislang weniger Technologie, sondern findet zumeist im Labor als Grundlagenforschung statt, weshalb auch oft von Nanowissenschaften gesprochen wird. Die bislang auf dem Markt befindlichen Anwendungen der Nanotechnologie wie Sonnenschutzcremes, Autoreifen und spezifisch behandelte Oberflächen scheinen kaum als Herausforderung für die Ethik zu taugen.

Der Blick in die Debatte zeigt aber, und genau das macht das konzeptionell und methodisch Faszinierende der Nanotechnologie als Gegenstand der Ethik aus, dass es zum großen Teil die Erwartungen und Befürchtungen, die Hoffnungen und Sorgen, die Versprechungen und die Ängste sind, welche Gegenstand ethischer Reflexion der Nanotechnologie sind. Ethik der Nanotechnologie erstreckt sich damit auf die 'Zukünfte' der Nanotechnologie,[4]  mit all den Unsicherheiten in Bezug auf die erwartbaren Folgen und mit all den Anforderungen, die sich hieraus für die Kommunikation über das Feld ergeben. Gegenstand ethischer Reflexion der Nanotechnologie, und dies ist die Ausgangsthese des vorliegenden Buches, ist auch, aber nur zum kleineren Teil, die gegenwärtige Nanotechnologie, sind vor allem jedoch die Zukünfte, die sie, metaphorisch gesprochen, verspricht oder mit denen sie droht.[5] 

1.2 Zielsetzung und Programmatik

Die primäre Zielsetzung dieses Buches besteht darin, aktuelle und absehbare Entwicklungen in der Nanotechnologie mit den dabei involvierten Zukunftsvorstellungen für Mensch und Gesellschaft systematisch in ethischer Hinsicht zu untersuchen. Die hauptsächlichen Fragen sind daher erstens, wo ethisch relevante Entwicklungen im Bereich der Nanotechnologie auftreten, welche dieser Fragen bereits in laufenden Diskussionen, z.B. in Technikethik oder Bioethik, behandelt werden, an die folglich angeschlossen werden könnte, wo sich gänzlich oder teilweise neue ethische Fragen stellen und wie dieses Feld geeignet zu strukturieren ist. Des Weiteren geht es zweitens darum, ethische Beurteilungen durchzuführen, soweit wie dies nach gegenwärtigem Wissensstand möglich ist, bzw. die Bedingungen zu benennen, die erforderlich wären, um dies zu tun. Auf diese Weise sollen Anregungen für die zukünftige Bearbeitung ethischer Fragen der Nanotechnologie und ihrer Anwendungen gegeben werden. Drittens schließlich ist es das Ziel, durch die strukturierte Aufarbeitung einen Referenzrahmen für die weitere Erforschung ethischer Fragen der Nanotechnologie bereitzustellen.

Gegenstand der Reflexion sind Entwicklungen, die mit nanotechnologischen Materialen oder Verfahren, ihren Anwendungen und ihren Zukünften verbunden sind. In diesem Buch wird keine spezifische Erkenntnis- oder Reflexionsperspektive einer bestimmten Teildisziplin der Angewandten Ethik (Knoepffler et al. 2002) oder einer Bereichsethik (Nida-Rümelin 1996) wie der Informationsethik oder der Bioethik eingenommen, sondern es werden generell diejenigen ethischen Fragen betrachtet, die sich mit den genannten Gegenständen der Reflexion in Verbindung bringen lassen. In diesem Sinne ist die vorliegende Analyse querschnittlich relativ zu den Teildisziplinen der Angewandten Ethik angelegt. Programmatisch wichtig sind hierbei die folgenden Ausgangsprämissen:

Mit diesem Ansatz wird der Blick zunächst auf das bereits vorhandene Feld der ethischen Befassung mit Nanotechnologie geworfen, das sich durch die verfügbare Literatur erschließen lässt. Darüber hinaus leiten diese Prämissen die weiterführenden Überlegungen an.

1.3 Wegweiser durch das Buch

Das vorliegende Buch ist in drei inhaltliche Teile gegliedert. Der erste Teil (Kapitel 2 - 4) ist der Entfaltung der erforderlichen Grundlagen gewidmet und umfasst eine Einführung in die Nanotechnologie, eine Klärung des Ethikverständnisses und eine Skizzierung des Verhältnisses von Ethik und Technik. Der zweite und umfangreichste Teil (Kapitel 5 - 9) umfasst die substantiellen Analysen zu ethischen Fragen der Nanotechnologie und ihren Anwendungen, aufbauend auf Überlegungen zur wissenschaftssystematischen Verortung der Ethik der Nanotechnologie (Kap. 5), strukturiert in Form eines Überblicks (Kap. 6) und vertieft in drei wesentlichen Feldern (Kap. 7 - 9), in denen es um Nanotechnologie in der Materialforschung, in der Biologie und in den Neurowissenschaften geht. Der dritte Teil (Kapitel 10 und 11) thematisiert konzeptionelle Querschnittsfragen von epistemologischen prospektiver Ethik bis hin zur weiteren Entwicklung des Forschungs- und Reflexionsfeldes 'Nano-Ethik'.

Kapitel 2 - Kurze Einführung in Nanotechnologie und ihre Kontexte

Zu Beginn ist es selbstverständlich geboten, den zu behandelnden Gegenstand ethischer Reflexion soweit wie erforderlich zu erläutern. Auch wenn die Nanotechnologie noch jung ist, so gehört mittlerweile eine Gründungsgeschichte zu ihrem Selbstverständnis, die es nachzuzeichnen gilt. Die fachliche Darstellung erstreckt sich zunächst auf die analytischen und technischen Mittel, die zur Erforschung von Nanostrukturen und zu ihrer gezielten Beeinflussung eingesetzt werden, gibt einen Einblick in die Welt der Objekte auf der Nanometerebene und einen Überblick über wesentliche Anwendungsfelder. Die Darstellung des Definitionsproblems der Nanotechnologie ist unverzichtbarer Teil ihrer Vorstellung angesichts der "Unbestimmtheit der Nanotechnologie" (Schmidt 2008). Zum Kennenlernen der Nanotechnologie gehört auch ein Einblick in die externen Perspektiven, die sie provoziert hat. Insbesondere hat die Nanotechnologie Anlass zu über das Technische weit hinausreichenden philosophischen Deutungen gegeben, die die gesellschaftliche Debatte stark mitgeprägt haben. Ein Blick auf die gesellschaftliche Debatte, sowohl in Bezug auf die hohen Erwartungen als auch mit Blick auf Risikobefürchtungen, rundet das Bild ab.

Kapitel 3 - Problemorientierte Ethik

Auf der Basis der Unterscheidung von Ethik und Moral wird ein Ethik-Verständnis skizziert, in dem Ethik Orientierung in moralischen Fragen bereitstellen soll. Die Probleme, denen sich Ethik in diesem Verständnis zuwenden soll, werden durch normative Unsicherheit in Entscheidungs- und Handlungssituationen charakterisiert. Solange die in der Praxis anerkannten normativen Orientierungen klare und unkontroverse Entscheidungen erlauben, ist ethische Reflexion nicht erforderlich. Wenn jedoch z.B. ein moralischer Konflikt vorliegt oder durch nanotechnologische Produkte Fragen aufgeworfen werden, die mit den herkömmlichen moralischen Mitteln nicht zu beantworten sind, entstehen Situationen normativer Unsicherheit und ethische Reflexion zur Bewältigung dieser Konflikt- oder Unsicherheitssituation ist gefragt. Aus dieser Überlegung werden Kriterien abgeleitet, wann eine Handlungs- oder Entscheidungssituation ethisch relevant ist - und diese wiederum werden im Fortgang der Überlegungen auf Nanotechnologie bezogen.

Kapitel 4 - Zum Verhältnis von Ethik und Technik

Das Verhältnis von Ethik und Technik ist seit Jahrzehnten Gegenstand der philosophischen Diskussion. Die Formulierung des Technikbegriffs als Reflexionsbegriff ermöglicht insbesondere die Präzisierung der Rede von Technisierung, z.B. des Menschen. Die Erläuterung der moralischen Gehalte von Technik dient zur Strukturierung der detaillierten Analysen zur Nanotechnologie, in denen es um die Suche nach (bereits realen oder erst vorgestellten) normativen Unsicherheiten in Bezug auf Nanotechnologie und ihre Anwendungen geht. Nanotechnologische Innovationen werden in diesem Sinne im Lauf der Untersuchung daraufhin zu befragen sein, inwiefern sie bestehende moralische Kohärenzverhältnisse herausfordern, stören oder sogar zerstören. In den von einer Ethik der Nanotechnologie erwarteten Antworten auf diese Herausforderungen müssen selbstverständlich die Erfahrungen technikethischer Reflexion und Praxis Eingang finden, wie sie sich nach mehreren Jahrzehnten mittlerweile herausgebildet haben.

Kapitel 5 - Zur Konzeption einer Ethik für die Nanotechnologie

Zunächst werden die Argumente rekonstruiert, welche für eine ethische Befassung mit der Nanotechnologie ins Feld geführt werden. Eine offene Frage ist, wie die Ethik der Nanotechnologie in das etablierte Feld der Angewandten Ethik (Nida-Rümelin 1996; Knoepffler et al. 2002) einzuordnen ist. So ist es umstritten, ob 'Nano-Ethik' eine neue Teildisziplin der Angewandten Ethik und damit ein eigenständiges Feld werden kann oder soll, oder ob es sich eher um Teilgebiete in bestehenden Ethiktraditionen wie der Technikethik handelt. In diesem Kapitel wird, Bezug nehmend auf das Definitionsproblem der Nanotechnologie, die Hypothese formuliert, dass die Nanotechnologie gerade kein Gegenstand ethischer Reflexion ist, der das Entstehen einer neuen Bindestrich-Ethik legitimieren kann. Da ethische Reflexion zu Nanowissenschaften und Nanotechnologie zu einem Teil aus der Zusammenführung verschiedener Traditionslinien ethischer Reflexion bestehen, sollte daher unter 'Nano-Ethik' keine neue Teildisziplin, sondern eine Plattform verstanden werden, auf der ethische Deliberation, interdisziplinärer Dialog und demokratische Auseinandersetzung mit diesen Fragen erfolgen können.

Kapitel 6 - Ethische Fragen der Nanotechnologie - eine Felderkundung

Die Bestimmung ethisch relevanter Bereiche der Nanotechnologie erfolgt zunächst in Form eines Überblicks über die verschiedenen Facetten ihrer ethischen Herausforderungen in Forschung und Anwendung. Ergebnis ist eine 'Kartierung' der ethischen Fragen. Hier sind die ethischen Fragen zu Risiken und Vorsorgenotwendigkeiten, zur Verteilungsgerechtigkeit, zu Bedrohungen der Privatsphäre, zu Kontrollbefürchtungen durch technischen Zugriff, zu medizinischen Nutzungsmöglichkeiten wie auch zu militärischen Anwendungen, zur Überwindung der Schnittstelle zwischen Technik und Leben sowie zur 'technischen Verbesserung' des Menschen zu nennen. In all diesen Feldern geht es um die Beantwortung einer doppelten Frage: wo liegen hier ethische Fragen im Sinne der kohärenztheoretischen Konzeptualisierung und in welcher Hinsicht handelt es sich hierbei um neue ethische Fragen? Weiterhin sollen Verbindungen aufgezeigt werden: auf der einen Seite zur nanotechnologischen Forschung, auf der anderen zu möglichen Anwendungen und schließlich zu bereits in anderen Feldern laufenden ethischen Debatten.

Kapitel 7 - Synthetische Nanopartikel: Risikoethik und Vorsorgeprinzip

Beim Übergang in die Nanometerdimension ändern sich - bei gleicher chemischer Zusammensetzung - viele Eigenschaften von Materialien, insbesondere in Abhängigkeit von der Partikelgröße, von ihrer Gestalt und von ihren Oberflächeneigenschaften. Daher kann der Größenübergang zu einem modifizierten Verhalten von Nanopartikeln in der Umwelt oder in lebenden Organismen wie dem menschlichen Körper führen. Die toxikologische Forschung zu den Wirkungsweisen von Nanopartikeln im menschlichen Körper und in der natürlichen Umwelt sowie zu ihrem Verbleib wird mit Nachdruck vorangetrieben. Die bisherigen Kenntnisse sind aber noch spärlich und beantworten längst nicht alle toxikologisch relevanten Fragen (Schmid et al. 2006, Kap. 5). Dieses Nichtwissen über mögliche Gesundheits- und Umweltfolgen wirft ethische Fragen nach dem Umgang mit Unsicherheit und möglichen Vorsorgenotwendigkeiten auf. Angesichts mancher negativer Erfahrungen, vor allem im Chemikalienbereich und mit Asbest (Gee/Greenberg 2002), hat diese Situation frühzeitig zur Forderung nach einem Moratorium in Bezug auf die kommerzielle Nutzung von Nanopartikeln geführt (ETC 2003), während andere auf 'weiche' Maßnahmen wie Selbstverpflichtungen setzen. In diesem Kapitel werden die normativen Streitfragen identifiziert, die sich hinter diesen unterschiedlichen Positionierungen verbergen, und es wird eine Strategie rationaler Konfliktbewältigung vorgeschlagen.

Kapitel 8 - Nanobiotechnologie: auf dem Weg zu künstlichem Leben?

Die Nanobiotechnologie weist möglicherweise den Weg zu künstlichem Leben bzw. zu einer gezielten technischen Beeinflussung von Leben auf der Nanometerebene. Grundlegende Lebensprozesse spielen sich im Nanomaßstab ab, da wesentliche Bausteine gerade diese Größenordnung haben (wie z.B. Proteine). Durch Nanobiotechnologie werden biologische Prozesse nanotechnisch kontrollierbar. Molekulare 'Fabriken' (Mitochondrien) und 'Transportsysteme', wie sie im Zellstoffwechsel eine wesentliche Rolle spielen, können Vorbilder für kontrollierbare Bio-Nanomaschinen sein. In klassischer Maschinensprache wird über Elemente des Lebendigen gesprochen: von Fabriken, Rotoren, Pumpen und Reaktoren. Nanotechnologie auf dieser Ebene könnte technische Nachbildung, gezielten Umbau oder Neuerfindung ('engineering') von Zellen erlauben. Die klassische Grenze zwischen dem Technischen und dem Lebendigen wird zunehmend überschreitbar. Insofern hier das Lebendige in einem bislang nicht gekannten Maße technisch nachbaubar und damit beherrschbar wird, rückt eine 'Synthetische Biologie' in Reichweite, die aus abiotischen Ausgangsmaterialien künstliches Leben erzeugen könnte. Dass sich hier weit reichende ethische Fragen sowie auch Fragen nach Risiken stellen, ist evident.

Kapitel 9 - Zwischen 'technischer Verbesserung' und Technisierung des Menschen

Ein großer Teil der ethischen Debatte zur Nanotechnologie wird durch das Thema der 'technischen Verbesserung' des Menschen bestimmt, wofür nanotechnologisch ermöglichte Schnittstellen zwischen dem Nervensystem bzw. dem Gehirn und technischen Systemen erforderlich sind. Mit dem Zusammenwachsen von Biotechnologie, Nanotechnologie, den Neurowissenschaften und den Informationstechnologien - wofür die Nanotechnologie die entscheidende Basis bereitstellt - eröffnen sich, so die Vision (Roco/Bainbridge 2002) neue Dimensionen technischer Möglichkeiten: der menschliche Körper und seine mentalen Fähigkeiten erscheinen, wenigstens in der wissenschaftlichen Utopie, als technisch veränderbar. So könnten z.B. die Sinnesorgane des Menschen wie Auge oder Ohr 'verbessert' werden, und es könnten durch direkte Verbindungen zwischen dem Gehirn und informationsverarbeitenden technischen Systemen neue Mensch-Maschine-Schnittstellen geschaffen werden, oder es könnte die Lebenserwartung des Menschen beträchtlich gesteigert werden. Solche 'technischen Verbesserungen' des Menschen gehen weit über die etablierten Ansätze der heilenden medizinischen Disziplinen hinaus und werfen eine ganze Reihe ethischer Fragen auf. Zu diesen gehören die argumentative Rolle der Natürlichkeit des menschlichen Körpers, die Frage nach Kriterien und Grenzen des Verbesserns, Folgen für eine zukünftige Gesellschaft und anthropologische Fragen nach der "Zukunft der Natur des Menschen" (Habermas 2001). Eine technikphilosophische und anthropologische Frage ist, ob mit Mitteln der Nanotechnologie arbeitende neuroelektrische Schnittstellen, etwa im Rahmen von Neuroimplantaten oder von Gehirn/Computer-Schnittstellen, zu einer Technisierung des Menschen führen können. Es zeigt sich, dass zur präzisen Diskussion ethischer Fragen hermeneutische Arbeit erforderlich ist: ein Verstehen dessen, was hier mit 'technischer Verbesserung' jeweils gemeint ist, wie dieses vom Heilen und vom Doping zu unterscheiden ist, und relativ zu welchen Kriterien eine Verbesserung als Verbesserung angesehen wird.

Kapitel 10 - Epistemologische Fragen prospektiver ethischer Reflexion

Ethik in der Nanotechnologie zu betreiben bedeutet - und dies zeigen insbesondere die drei vorgestellten vertiefenden Analysen -, mit teils weit reichenden und spekulativen Zukunftsaussagen bzw. Visionen und den damit notwendiger Weise verbundenen Unsicherheiten umgehen zu müssen. Wenn Folgenwissen und Zukunftsvorstellungen, wie in der modernen Gesellschaft üblich und in Bezug auf Nanotechnologie unübersehbar (Grunwald 2006a), umstritten sind (Brown et al. 2000), dann bedarf es eines Instrumentariums, um verschiedene, kontroverse oder divergierende, Zukünfte unter Rationalitätsstandards argumentativ gegeneinander abzuwägen. Ethische Befassung mit Zukunftstechnologien ist mit den entsprechenden Problemen des Wissens konfrontiert und muss sich daher einer epistemologischen Anstrengung zur Einschätzung der konkurrierenden Zukünfte stellen, will sie nicht in eine Befassung mit bloß Spekulativem abgleiten, wie gelegentlich bereits kritisiert (Nordmann 2007a; Keiper 2007). Die notwendige epistemologische Reflexivität in der ethischen Befassung mit den Zukünften der Nanotechnologie führt zu der Frage nach einem ethisch verantwortungsvollen Umgang mit teils hoch spekulativen Zukünften, seien dies weit reichende Versprechungen oder Befürchtungen. Gleichfalls wird deutlich, dass die Möglichkeiten einer Ethik als reflektierender Unterstützung in der Behebung normativer Unsicherheiten mit dem Grad der Spekulativität des Gegenstandes abnehmen - dass aber dafür andere und vor allem hermeneutische Funktionen dieser Reflexion als gleichsam 'prä-ethische' Befassung zur Aufklärung sich abzeichnender normativer Unsicherheiten in den Vordergrund treten.

Kapitel 11 - Schlussfolgerungen und Perspektiven

Die Debatte über Ethik der Nanotechnologie ist noch jung. Aufbauend auf den Ergebnissen der vorangegangenen Kapitel werden Schlussfolgerungen gezogen und Perspektiven für dieses Feld entworfen. Sie beziehen sich auf die Fragen, ob die bisherigen ethischen Untersuchungen zur Nanotechnologie Anzeichen für eine moralisch begründete Ablehnungsfront gegenüber der Nanotechnologie erkennen lassen, wie Technikethik zu 'emergenten' Technologien als eine Ethik 'entlang der Entwicklungskette' konzeptualisiert werden kann, in welcher Weise sie sich dabei an interdisziplinären Dialogen beteiligen soll, ob und inwieweit Wirkungen und Anschlüsse ethischer Debatten an ihren verschiedenen pragmatischen Orten erkennbar sind, und auf die Frage nach der zukünftigen Entwicklung der Ethik für die Nanotechnologie

Anmerkungen

[1]  Der Einheitsgesichtspunkt in den vielfältigen Aktivitäten innerhalb der Nanotechnologie müsste durch eine Definition angegeben werden. Dies erweist sich jedoch als schwieriges Unternehmen (vgl. dazu Kap. 2.3 in diesem Band).

[2]  Die technische Erschließung des immer Kleineren hatte zuvor die Mikrosystemtechnik erreicht (eine soziologische Rekonstruktion ihrer Geschichte findet sich bei Bender 2006). Die Nanotechnologie macht in Richtung auf Miniaturisierung demgegenüber (wenigstens dem Anspruch nach) noch einen Schritt um zwei bis drei Größenordnungen.

[3]  In einer Reihe von Sammelbänden sind Arbeiten zu ethischen und weiteren gesellschaftlichen Aspekten der Nanotechnologie zusammengeführt worden, die einen guten Überblick über das Feld geben (Baird et al. 2004; Nordmann et al. 2006; Gaszo et al. 2006; Allhoff et al. 2007; ten Have 2007).

[4]  Dass hier der für manche ungewohnt klingende Plural verwendet wird, ist Programm. Erläuterungen dazu in Kap. 10 in diesem Band.

[5]  Diese Situation hat bereits Anlass zu Positionen gegeben, dass es zu früh für eine Nano-Ethik sei (Keiper 2007), und Befürchtungen hervorgerufen, dass sie sich im Spekulativen verliere (Nordmann 2007a). Eine Auseinandersetzung mit diesen Stellungnahmen gehört selbstverständlich zu den Aufgaben dieses Buches (vgl. insbesondere Kap. 5 und Kap. 11).

 

Erstellt am: 26.11.2008 - Kommentare an: webmaster