Brinckmann, Andrea
Berlin: edition sigma 2006, Reihe: Gesellschaft - Technik - Umwelt, Neue Folge 9, ISBN 3-89404-939-1, 240 Seiten, 19,90 Euro
[Inhalt]
[Geleitwort]
[Vorwort]
Einleitung
Das Interesse der Zeitgeschichtsforschung an den 1960er Jahren wächst kontinuierlich. Die neuesten Publikationen zu dieser Epoche bundesrepublikanischer Geschichte dokumentieren indessen, dass sich Untersuchungen und Analysen nicht mehr vornehmlich auf das symbolträchtige Jahr 1968 stützen, das lange als enger Bezugspunkt einer durch die Studentenunruhen ausgelösten tief greifenden Zäsur galt, die erst die Voraussetzungen zu schaffen schien für die nachhaltige Transformation von Politik, Gesellschaft und Kultur. Vielmehr wird durch eine steigende Anzahl von Forschungsarbeiten deutlich: Die politischen und soziokulturellen Umbrüche in vielen Bereichen der Bundesrepublik wurden spätestens zu Beginn jenes Jahrzehnts in die Wege geleitet (vgl. Frese et al. 2003; Schildt et al. 2000; Görtemaker 1999, Thränhardt 1996). Demokratisierung und Partizipation waren die Schlüsselbegriffe dieser Dekade. Forderten zunächst kritische Intellektuelle, Studenten und Professoren die gesellschaftliche Mitbestimmung bei der politischen Gestaltung der Zukunft ein, wurde die Notwendigkeit reformpolitischer Maßnahmen und vorausschauender politischer Planung bald zum wichtigsten Gegenstand öffentlicher Diskussionen (vgl. Scheibe 2002). Früh konzentrierten sich Reform- und Planungsschwerpunkte auf die Bereiche Wissenschafts- und Forschungspolitik. Rückstände waren in der Datenverarbeitung zu verzeichnen und der Bildungssektor galt als dringend reformbedürftig. Berühmt wurde 1964 Georg Pichts Menetekel einer „deutschen Bildungskatastrophe“ (Picht 1964). Deshalb fanden zunehmend Wissenschaftler Gehör, die der Politik Vorschläge unterbreiteten, wie mit neuen Forschungskonzepten und modernen Planungsmethoden künftig gesellschaftlichen Problemlagen vorausschauend begegnet werden könne.
Die Studiengruppe für Systemforschung, an deren Beispiel aus historischer Perspektive Entwicklungsfaktoren und -bedingungen wissenschaftlich gestützter Politikberatung untersucht werden sollen, war zunächst 1957 als informelle Arbeitsgruppe von Natur- und Geisteswissenschaftlern an der Universität Heidelberg gegründet worden. [1] In den 1960er Jahren brachte sie auf dem Gebiet der Forschungsplanung und Forschungspolitik - ein Bereich, der sich in dieser Zeit zum bevorzugten Kooperationsfeld von Politik und Wissenschaft entwickelte (vgl. z. B. Lohmar 1967) - die in der Bundesrepublik Deutschland bis dahin wenig bekannte Systemanalyse als politische Entscheidungshilfe zur Anwendung. Mit ihrer Organisationsform, die sich an amerikanischen Nonprofit-Forschungs- und Beratungsgesellschaften wie der RAND-Corporation orientierte, unterschied sie sich von den Strukturen der Universitäts-, Industrie- oder Großforschung. Die Systemforschung als Wissenschaftszweig, der Forschungsmethoden kombiniert, der interdisziplinär, ganzheitlich und praxisorientiert Forschungsstrategien für komplexe Probleme entwickelt (vgl. Kapitel 2.3), wurde von der Studiengruppe aufgegriffen, um die wissenschaftliche Methodik der Forschungsplanung zu verbessern und um unterschiedlichste Systeme zu entwickeln und zu verbessern. Auf diese Weise trug die Gruppe dazu bei, dass die Wechselbeziehungen von Wissenschaft, Forschung, Politik und Gesellschaft zunehmend von einer interessierten Öffentlichkeit wahrgenommen wurden. Deren Kritikfähigkeit hinsichtlich wissenschafts- und forschungspolitischer Fragen (vgl. Krauch 1966a), wollte die Studiengruppe durch die Planung, Entwicklung und Implementierung besonderer, zum Teil allgemein zugänglicher, Informationssysteme schaffen. Das in Heidelberg beheimatete, vom Bundesforschungsministerium finanzierte, Institut verstand sich explizit als praxisorientierte und interdisziplinäre Einrichtung. Anstatt jedoch Expertisen zu isolierten Aspekten politischer Entscheidungsprobleme anzufertigen, versuchte die Studiengruppe mit innovativen Denkmodellen und Forschungskonzepten ihre Auftraggeber für ein ganzheitliches Verständnis wissenschaftspolitischer Probleme und Erfordernisse zu gewinnen. In den ersten Jahren ihres Bestehens lag der Aufgabenschwerpunkt im Bereich der Planungsforschung und der Informations- und Dokumentationswissenschaften. Seit 1967 erhielt die Studiengruppe zusätzlich eine Reihe von Aufträgen für umfangreiche Sondervorhaben im Regierungs- und Verwaltungsbereich. Ihr wurde von verschiedenen Ministerien die Reorganisation bzw. die Rationalisierung von Abläufen im Kanzleramt, im Patentamt, der Bundestagsverwaltung und im Presse- und Informationsamt anvertraut. Damit steht die Studiengruppe für Systemforschung im Mittelpunkt der Genese wissenschaftlicher Politikberatung mittels Systemanalyse.
[1] Die Gründungsgeschichte wird ausführlich im Kapitel 3.1.2 behandelt. Ergänzende biographische Daten einiger wichtiger Mitglieder und freier Mitarbeiter der Studiengruppe befinden sich im Anhang.