Vagabundierendes Denken -
Frauenforschung im Spannungsfeld von Wissenschaft und Gesellschaft

Bettina-Johanna Krings

Vortrag am Forschungszentrum Karlsruhe, 12. November 2001


Epilog:

Die Geschichte vom Kugelmenschen wird häufig als Beispiel für den Gedanken einer ursprünglichen Androgynie des Menschen aufgeführt, die zu der Entstehung der Geschlechter und des Eros führte. Sie wird von Platon durch den Komödiendichter Aristophanes im 'Symposium' als fiktive Figur vorgetragen:

Es gab zu Anfang drei Geschlechter: die Männer, die Frauen und die Androgynen. Alle drei Geschlechter waren Doppelwesen und von runder Gestalt, so daß Rücken und Brust im Kreis herumgingen. Sie waren Mann-Mann- genauso wie Frau-Frau-oder Mann-Frau-Kugelwesen.

Diese Doppelwesen fühlten sich überaus stark und kräftig. Ihre Kraft machte sie den Göttern ebenbürtig. Sie wurden übermütig und wagten es, die Götter anzugreifen. Zeus strafte den Übermut, indem er die Menschen schwächte und sie in je zwei Hälften schnitt. Zeus befahl daraufhin Apollon, den Menschen das Gesicht und den halben Hals so zu drehen, daß er seine Zerrissenheit vor Augen habe. Durch diese Trennung in zwei Hälften und die dadurch möglich gewordene Sicht auf das 'eigene' Gegenüber entstand ein Bewußtsein vom Selbst und vom Anderen und damit die Sehnsucht nach der Wiedervereinigung der anderen Hälfte. Zeus erbarmte sich diesen traurigen Zustandes und verlegte die Zeugungsorgane nach vorne, so daß die Fortpflanzung nun durch Zeugung ineinander erfolgen konnte und die getrennten Hälften wenigstens zeitweise in der Umarmung ihre Sehnsucht zu stillen vermochten.

Die Kugelwesen als androgyn ausgerichtete Gestalten versperren sich unserem Verständnis der Geschlechterverhältnisse. In Platons Bild sind sie völlig gleichgestellt, sehen gleich aus, sind Mann, Frau und Zwitterwesen gleichermaßen und darüberhinaus noch frech und aufsässig. Der ordnende Wille Zeus' schafft Differenz.

Differenz nicht nur innerhalb der Geschlechter, auch im zeitlichen Ablauf. Es gibt eine glückliche Zeit und eine Zeit des Verlustes. Die androgynen Wesen verschwinden langsam von der Bildfläche.

Zwar ging Platon ganz im Sinne der alten Griechen davon aus, daß die 'vollkommenste' Beziehung die zwischen zwei Männern war. Auch gehörten Frauen, Kinder und Sklaven der Haussphäre an, während die Männer die öffentliche Sphäre, die Polis, verwalteten. Dennoch weist die Geschichte der Kugelmenschen im klassischen Sinne auf den Geschlechterkonflikt hin:

Nach der Trennung fehlt beiden Geschlechtern etwas zur Vollkommenheit: sie bedürfen einander, suchen sich und entwickeln Neid aufeinander. Nur - das müßten sie erkennen. Denn die Voraussetzung der geschlechtlichen Anerkennung des Anderen ist die Anerkennung der eigenen Geschlechtsgebundenheit.

Der Ursprung des eigenen Daseins - Zeugung und Geburt - ist die Existenz und Verbindung beider Geschlechter.

Aber ich greife weit voraus, kommen wir zum ersten Teil:

1     Das Geschlecht der Moderne

In der fortschreitenden Aufklärung des 18. Jahrhunderts verlor 'Gott' als Bezugspunkt für den Menschen an Bedeutung. Der von dem französischen Philosophen René Descartes formulierte moderne Rationalismus, welcher der 'cogitatio' eine zentrale Stellung einräumte, trug noch scholastische Züge.

Erst die Idee 'Natur' läutete einen vollkommen anderen Modus des Denkens und Redens über den Menschen ein. Die Frage: 'Was ist die Natur des Menschen?' wurde zum Kern einer neuen Wissenschaft, der "science de l'homme" , einer Humanwissenschaft, die sich an der Leitwissenschaft 'Naturgeschichte' orientierte. Es entstand eine säkularisierte Anthropologie, die den Menschen unmittelbar zum Objekt der Forschung machte. An ihrem Wissen und ihren Erkenntnissen richteten sich nun fortan die Deutung der sozialen Welt aus.

Das Naturrecht bildete auch die Grundlage für die Menschen- und Bürgerrechte. Der Ausspruch Jean Jaques Rousseaus "Der Mensch ist frei geboren und doch in Ketten gelegt" zeugt von dem neuen Wissen, das mit den sozialen Verhältnissen nicht mehr in Einklang gebracht werden konnte. Aus diesem Wissen heraus entwickelte sich die Unrechtmäßigkeit jeglicher Unterdrückung von Menschen durch Menschen.

Während die 'Ungebundenheit der Geburt', wie es die Philosphin Hannah Arendt später nannte, für Männer konsequenterweise zur Aufhebung der Herrschafts-Knechtsverhältnisse führte, wurden die Frauen an die patriarchale Bevormundung und gesellschaftliche Minderbewertung gebunden. Über das Naturrecht entstand historisch ein verändertes Wissen über die Geschlechter und damit neue Asymmetrien hinsichtlich der Zuschreibung über die Natur des Mannes oder des 'Allgemein Menschlichen' und über die Natur der Frau.

Dies bekam Olympe de Gouges bitter zu spüren. Im Jahre 1791 legte sie der französischen Nationalversammlung ihre Déclaration des Droits de la Femme et de la Citoyenne vor, um dem Paradox der 'natürlichen' Ungleichheit zwischen den Geschlechtern Ausdruck zu verleihen. In dieser Erklärung forderte sie die neu formulierten Menschenrechte auch für die Frauen ein. Die Gegenseite reagierte tyrannisch.

Im April 1793 erklärte die Nationalversammlung, daß Kinder, Irre, Minderjährige, Frauen und Kriminelle kein Bürgerrecht genießen.

Olympe de Gouges wurde am 3. November 1793 als Royalistin durch die Guillotine hingerichtet, die Partizipation der Frauen am politischen Leben wurde strikt verboten, geahndet und als 'naturwidrig' deklariert.

Zwei Prinzipien im männlichen Referenzsystems, denen Olympe de Gouges zum Opfer fiel, sind bis heute Bezugspunkte der Frauen- und Geschlechterforschung geblieben:

Es war noch ein langer und steiniger Weg bis den Frauen in den europäischen Ländern der auch ihnen gebührende Subjekt- und Rechtsstatus zugebilligt wurde. Erst im Jahre 1949 mit der Verabschiedung des Grundgesetzes wurde in Deutschland der Grundsatz der Gleichheit der Geschlechter eingeführt und es dauerte nochmals 25 Jahre bis durch die Vehemenz der Frauenbewegung, den Erkenntnissen der Frauenforschung sowie der steigenden Berufstätigkeitkeit der Frauen dieser Grundsatz ins öffentliche Bewußtsein drang.

Die Frauenforschung hat diese Entwicklung als eine Suchbewegung begleitet. Von dem Vorhaben, genuin eigene Forschungsmethoden zu entwickeln, hat sie sich bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts verabschiedet. Das Vorhaben feministische Theorie zu produzieren, existiert bis heute.

Was sind nun die Inhalte von Frauenforschung?

Kommen wir zum zweiten Teil:

2     Kurskorrekturen

"Haben Sie eine Ahnung, wieviele Bücher Männer im Laufe eines Jahres über Frauen geschrieben haben? Sind Sie sich dessen bewußt, daß Sie vielleicht das am meisten diskutierte Lebewesen des Universums sind?" fragte Virginia Woolf in ihrem berühmten Essay 'Ein Zimmer für sich allein' aus dem Jahre 1928, in dem sie vehement für die Durchsetzung von Frauen-Räumen plädierte, nicht nur im geographischen Sinne.

Frauenforschung ist radikaler Perspektivenwechsel. Frauenforschung ist die Sicht auf die Welt durch die Brille der Geschlechterverhältnisse. Dieser Perspektivenwechsel im Sinne einer erweiterten Denkungsart, wie es einmal Hannah Arendt formulierte, ging in ihrer Geschichte immer wieder wechselnde Bündnisse mit anderen Theorieprojekten ein: mit der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, dem dekonstruktivistischen Denken, der Diskurstheorie hauptsächlich Michel Foucoults, der Psychoanalyse und neuerdings mit postkolonialen Theorieansätzen.

Grundsätzlich entfaltet sich Frauenforschung im kritischen Austausch mit anderen Theorien und nicht in einem Radikalentwurf gegen anderes Wissen. Frauenforschung stellt keinen Gegenentwurf des heutig gültigen Forschungs- und Wissenschaftssystem dar. Es bezieht sich darauf und unternimmt eher 'Kurskorrekturen', die aus der historischen Erfahrung damit resultieren.

Ich habe drei Aspekte herausgearbeitet, die meines Erachtens Frauenforschung charakterisieren und deren Wissensstand für die Fragen, die uns hier im Forschungszentrum bewegen fruchtbar sein kann: beispielsweise im Verhältnis Technikentwicklung und Gesellschaft, im Verhältnis von Forschung und Gesellschaft sowie im Versuch nachhaltige Entwicklungskonzepte für die Zukunft zu erschließen,:

3     Was mit 'Macht' getrennt wird, gehört gesellschaftlich zusammen

Die Soziologin Helga Krüger schreibt in einem ihrer Aufsätze: Ein Ratschlag mochte mein Großvater meinem Bruder und mir nicht vorenthalten: 'Mädchen, die pfeifen und Hühnern, die krähen, soll man beizeiten die Hälse umdrehen'.

Obgleich dieser Ausspruch heute sehr krass erscheint, ist die Botschaft noch in vielerlei Hinsicht gültig: Ein Mädchen kann sich nicht einfach dadurch außer Kraft setzen, daß es lernt, auch das zu beherrschen, was Jungen tun. Kulturell festgelegte Kompetenzbereiche zwischen den Geschlechtern sind auch bei einer individuellen Überschreitung wirksam und wirken auf unterschiedlichen Ebenen weiter: in und durch die Institutionen, in und durch Beziehungen und auch vermittelt durch kulturelle Bilder und Leitvorstellungen von Traditionen.

Diese extrem vielschichtigen Muster, die im 'doing gender' von Männern und Frauen gleichermaßen tagtäglich aufs Neue vollzogen werden, sind sehr eindrücklich in der Frauenforschung und vor allem in der Genderforschung aufgearbeitet worden. Die Genderforschung ist von der Frauenforschung nicht zu trennen, ihre Grenzen sind fließend. Betont wird hier der 'kulturelle bias' zwischen und innerhalb der Geschlechter, wobei die eigene Beteiligung des 'doing gender' besonders ins Visier genommen wird. Das Geschlechterverhältnis wird als eine symmetrische Beziehung betrachtet, an dessen Gestaltung beide Geschlechter gleichermaßen beteiligt sind. (Queer-studies!)

Ich habe versucht aufzuzeigen, daß sich Frauenforschung im Laufe der Jahre zu einer wissenschaftlichen Praxis entwickelt, die die vielfältigen Ausgrenzungsprozesse der gesellschaftlichen Entwicklung in den Blick nimmt. Hierbei hat sich ein Wissen entwickelt, das ich als ein Vermittlungswissen charakterisieren würde: ein Wissen, das zwischen Theorie und Praxis, sozialer Inklusion und Exklusion vermittelt, zwischen den historisch vollzogenen Strukturen der Abwertung und zwischen neuen sozialen Formen der Anerkennung. Schaut man sich den heutigen rasanten gesellschaftlichen Wandel an oder auch die Probleme bei der Implementierung gesellschaftlich-technischer Innovationsmodelle -, so scheint, daß dies für die nahe Zukunft ein sehr bedeutsames Wissen werden kann.

Die US-amerikanische Philosophin Nancy Fraser hat darauf hingewiesen, daß Gleichheitsfragen weit über Gerechtigkeitsfragen hinausweisen, weil sie nicht nur Fragen von gleichen Rechten und Freiheiten, sondern auch Fragen, die das 'gute Leben' betreffen, ansprechen. Und dies sind Fragen, die von gesamtgesellschaftlicher Relevanz sind und auch sein sollten.

Es sind längst überfällige Fragen, wenn man darüber nachdenkt, wie eigentlich Menschen mit Kindern (und Alten und kranken oder behinderten Menschen) in unserer Gesellschaft leben wollen und leben können. Oder wie die Zukunft nachkommender Generationen in unserer Gesellschaft aussehen könnte.

Diese Fragen betreffen in besonderem Maße die Bewertung gesellschaftlich relevanter Arbeit und die Umverteilung von Pflichten, Belastungen und Chancen. Neue gesellschaftliche Konzepte werden benötigt, die diese Aspekte berücksichtigen und in die alle Menschen mit einbezogen werden müssen.

Schließen wir den Kreis und kehren wir zurück zu unseren Kugelwesen aus Platons 'Symposium'. Zuerst gab es Männer, Frauen und Androgyne, nach dem Akt des Trennens verschwanden die Androgyne von der Bildfläche.

Die übrigen Kugelwesen verloren ihre Wurzeln.
Beide, Mann und Frau kugeln seitdem orientierungslos herum. Nur im Konflikt oder in der sehnsüchtigen Umarmung erfahren sie ihre wahre Identität.

Die Trennung, das zeigt die Frauenforschung, kann aber auch eine Chance für beide sein, den anderen bewußt wahrzunehmen, anzuschauen, um so das eigene Selbst sowie die eigene Geschlechtlichkeit auszukundschaften.

Dies fand auch die Begründerin der ersten schwedischen Frauenbewegung Ende des 19.Jahrhundert, die sagte: "Erlaubt mir Mensch zu sein, und ich habe die größte Lust, Frau zu sein".


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Stand: 26.11.2001 - Kommentare und Bemerkungen an:     Bettina-Johanna Krings