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Warum eigentlich Informations"gesellschaft"?

Theoretische Überlegungen aus Anlaß des internationalen EU-Projekts "Informationsgesellschaft, Arbeit und die Entstehung neuer Formen sozialer Ausschließung".


Günther Frederichs
Forschungszentrum Karlsruhe
Institut für Technikfolgenabschätzung
und Systemanalyse (ITAS)
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Das EU-Projekt "Information Society, Work and the Generation of New Forms of Social Exclusion" (SOWING) wird von Forschungsgruppen in Belgien, Deutschland, England, Finnland, Irland, Italien, Österreich und Portugal durchgeführt. Auf deutscher Seite ist das "Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse" (ITAS) im Forschungszentrum Karlsruhe beteiligt. Die folgenden Ausführungen erläutert die grundlegende Fragestellung des Projekts, was aus theoretischer Sicht unter dem Begriff der "Informationsgesellschaft" zu verstehen ist.

1.   Die Fragestellungen des Projekts

Hintergrund des Projekts ist die Beobachtung, daß es in den letzten Jahren weltweit in wirtschaftlichen Unternehmen zu Veränderungen kommt, die direkt oder oft auch nur mittelbar mit den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien (IT) in einem Zusammenhang stehen. Häufig betreffen diese Veränderungen die Organisation in den Firmen und Betrieben selbst, oft wird aber auch beobachtet, daß es zu Veränderungen im Marktgeschehen kommt oder im institutionellen, politischen und gesellschaftlichen Umfeld der Firmen. Die in der einschlägigen Literatur genannten Veränderungen innerhalb und außerhalb der Wirtschaftsunternehmen sind zum Beispiel der Abbau von Hierarchien und die Flexibilisierung von Arbeitsstrukturen, die Individualisierung von Arbeitsplätzen, der Aufbau von Netzwerken innerhalb und zwischen den Firmen, die Entwicklung globaler Kommunikationsbeziehungen, das Entstehen neuer Qualifikationsanforderungen und Berufe.

Diese Vorgänge sind in ihrem regionalen, nationalen und globalen Gesamtzusammenhang äußerst komplex. Das bisherige Wissen reicht für die langfristige politische Einschätzung nicht aus. Das SOWING-Projekt ist ein aufwendiger Versuch der Europäischen Kommission, den Informationsstand zu verbessern. Für die Dauer von drei Jahren werden in acht europäischen Regionen Befragungen und Fallstudien durchgeführt, in denen die Veränderungen in den Firmen vor dem Hintergrund der regionalen Strukturen untersucht werden, um sie interregional zu vergleichen zu können.

Diese groß angelegte Untersuchung bringt eine Fülle von Detailinformationen über die Entwicklungen der verschiedenen Regionen mit sich. Das Anliegen des Projekts ist es aber nicht nur, die Veränderungen zu beschreiben, sondern auch Einsichten darüber zu bekommen, welche Veränderungen als so bedeutsam herausgestellt werden können, daß sie für die europäische Integrations- und Wettbewerbspolitik verläßliche Anhaltspunkte liefern.

2.   Der Problemhintergrund

Die "Bedeutsamkeit" von Veränderungen ist natürlich ein relativer Begriff. Eine erste diesbezügliche Vorentscheidung ist durch die Themenwahl des Projekts getroffen worden: Mit den Begriffen "Informationsgesellschaft", "Arbeit" und "Social Exclusion" sind drei Aspekte angesprochen, die in der wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Diskussion eine prominente Rolle spielen. Dahinter steht die allgemein verbreitete Erwartung, daß sich die Gesellschaft im Zusammenhang mit den Informations- und Kommunikationstechnologien wandelt und daß dies nicht nur positive, sondern auch negative Folgen hat. Es steht dahinter auch die Erwartung, daß es zwischen diesen drei Themen systematische Zusammenhänge gibt.

Diese Erwartungen gilt es durch die Untersuchungen zu untermauern - oder zu widerlegen. Ein Hinweis auf die "Bedeutsamkeit" der Beobachtungen könnte das Auftreten gleicher Entwicklungsmuster in den unterschiedlichen Regionen sein. Das allein genügt jedoch nicht, weil das die Folge identischer Technologiekonzepte sein könnte, die weltweit vermarktet werden und in allen Regionen in gleicher Weise zur Anwendung kommen. Daß es sich dabei um dauerhafte, strukturelle Veränderungen handelt, ist dadurch noch nicht belegt. So gesehen sind bestehenden Differenzen zwischen den Regionen sogar viel aufschlußreicher, weil sie die auch in der EU (vgl. den "Bangemann-Report") verbreitete Ansicht in Frage stellen, daß der Wandel zur "Informationsgesellschaft" durch die Technik determiniert wird.

Das Problem stellt sich also in der Weise, daß Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Regionen hinsichtlich ihrer Relevanz für einen gesellschaftlichen Wandel beurteilt werden müssen. Das heißt, es sind solche Veränderungen zu identifizieren, die sich in die grundlegenden gesellschaftlichen Strukturen hinein erstrecken. Die folgenden Ausführungen zeigen, wo sich empirische Ansatzpunkte für eine solche Identifizierung ergeben.

3.   Keimzellen des strukturellen Wandels

Grundlegend für die allgemein empfundene Ambivalenz der Informationsgesellschaft, wie sie ja auch in der Entgegensetzung von wirtschaftlichem Aufschwung und "Social Exclusion" zum Ausdruck kommt, ist die alte Erkenntnis, daß Strukturen sowohl die Ermöglichung als auch die Einschränkung von Handeln bedeuten. Dieser Zusammenhang lenkt die Aufmerksamkeit auf einen Aspekt der technologischen Entwicklung, der strukturauflösend und strukturbildend in die gesellschaftliche Praxis eingreifen kann: die Abkopplung von bisher bestehenden Zwängen zugunsten der Leistungssteigerung in Bereichen, die gesellschaftlich wesentlich sind. Beispiele dafür im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien sind:

Diese Beobachtung an der technologischen Entwicklung, die nahezu beliebig an technischen Erneuerungen wiederholt werden kann, kann sinnentsprechend auch bei den nicht unmittelbar technischen Entwicklungen festgemacht werden:

4.   Gesellschaftlicher Wandel und Technologie

Evolutionäre Gesellschaftstheorien sehen in der sukzessiven Loslösung von Zwängen ein durchgehendes Prinzip der zivilisatorischen Entwicklung (Elias). Die systemtheoretische Ausformulierung dieses Prinzips führt zu der Beschreibung gesellschaftlicher Systeme, die sich zugunsten der Steigerung spezifischer Leistungen von allen damit nicht unmittelbar zusammenhängenden Zwängen und Rücksichten befreien bzw. diese in systeminterne Zwänge umwandeln und sich dadurch gegen die übrige Gesellschaft abgrenzen.

Aus diesem Prinzip ergibt sich ein Hinweis auf die im Begriff der "Informationsgesellschaft" postulierte Affinität zwischen den Technologien und gesellschaftlichem Wandel. Wo immer Technologien die Mittel für Entlastungen bereitstellen, trifft dies auf gesellschaftliche Voraussetzungen, die ihre systemspezifische Inkorporation mehr oder weniger wahrscheinlich machen. In dieser Formulierung wird deutlich, daß und wie der Technikdeterminismus zu differenzieren ist: Als eine Erscheinung in der Gesellschaft entwickeln sich Technologien nach Maßgabe des sich ohnehin vollziehenden gesellschaftlichen Wandels. Ihr Part ist es, Mittel für die Entlastung oder Umwandlung von Zwängen bereitzustellen, die für die Entwicklungstrends hinderlich sind.

Nun kann die Befreiung von Zwängen nicht nur die Auflösung von Strukturen bedeuten, es müssen auch neue entstehen, die die Funktionen der wegfallenden Strukturen übernehmen oder durch funktionale Äquivalente ersetzen. Wie dies in der Ablösung segmentärer und hierarchischer Gesellschaftsformen durch die moderne Gesellschaft geschieht, ist in elaborierten Analysen dargestellt worden. Sie machen deutlich, daß ein struktureller Wandel ein höchst prekäres und voraussetzungsreiches Ereignis ist, das sich nicht beliebig herstellt. Daraus folgt, daß ein gesellschaftlicher Wandel, so er einmal auf dem Wege ist, sich nur nach sehr robusten und eindeutigen Prinzipien vollziehen kann. Kontextabhängige "Innovationen" hätten kaum eine Chance, einen Wandel auf breiter Front durchzusetzen. Diese Einsicht verhilft der empirischen Forschung zu einer starken Arbeitshypothese: Sofern man dieses Prinzip (an)erkannt hat, weiß die Empirie, wonach sie zu suchen hat. Sie muß das Prinzip in den wechselnden Kontexten "nur" immer wieder neu identifizieren.

Wenn also das Prinzip der Moderne die Entkopplung von Zwängen zugunsten von Leistungssteigerung ist, wird man es bei allen Erscheinungen gesellschaftlichen Wandels in Form von Systemdifferenzierungen aufspüren können. Das gilt auch auf der Ebene von Wirtschaftsunternehmen, die als Organisationen mit den Funktionssystemen der Gesellschaft kommunizieren, zum Beispiel mit Wirtschaft und Politik. Den gesellschaftlichen Wandel erkennt man an der Systemdifferenzierung in Korrespondenz zu den global operierenden Funktionssystemen. Allerdings wird sich nicht jede Art von Veränderung unter diesem Gesichtspunkt subsumieren lassen. Es gibt auch gegenläufige Veränderungen, weil jede Entwicklung immer auch mit regressiven Schüben einhergeht, die dann allerdings nicht als Systemdifferenzierung beschreibbar sind. Hier ist bei der Beobachtung von Unterschieden zwischen den regionalen Entwicklungen anzusetzen.

5.   Social Exclusion

Das Prinzip der Moderne ist die funktionale Differenzierung. Die Untereinheiten der Gesellschaft bilden sich als Systeme nach Maßgabe funktionaler Erfordernisse, so wie Wissenschaft, Wirtschaft, Recht, Politik. Die Kehrseite der funktionalen Differenzierung, also untrennbar mit ihr verbunden, ist die Spezialisierung, die Leistungssteigerung ermöglicht, aber eine weitgehende Isolation der Untereinheiten voneinander bedingt. Jedes Funktionssystem ist in bezug auf komplexe Sachverhalte nur unter seiner Perspektive "zuständig", also je nach System unter der wissenschaftlichen, der rechtlichen, der wirtschaftlichen Perspektive. Jeder andere Kompetenzanspruch ist unzulässig und wird als Anmaßung geächtet.

Die Integration des Menschen in die funktional differenzierte Gesellschaft kann sich daher nur über seine Teilnahme an den Funktionssystemen herstellen. Aufgrund der Spezialisierung dieser Systeme kann sich aber niemand mit einem einzigen Funktionssystem identifizieren. Das erklärt auch das Phänomen der zunehmenden Individualisierung, weil jedes Funktionssystem immer nur einen Teil erfaßt und dadurch Freiräume für Individualität offen läßt, die auch durch die Summe aller Funktionssysteme nicht abgedeckt werden.

Unter diesen Voraussetzungen besteht die Integration aus mehr oder weniger gelungenen, aber immer nur partiellen "Inklusionen" in die Funktionssysteme. Das Gegenteil, die Exklusion, erscheint dann als ein multidimensionales, kumulatives Phänomen, indem nämlich die Inklusion in immer mehr Funktionssystemen fehlschlägt. Die Analyse von Exklusion muß sich dementsprechend mit den Mechanismen beschäftigen, die eine Abfolge von Zusammenbrüchen der Inklusion in mehreren Funktionssystemen entstehen lassen.

In der Theorie einer funktional differenzierten Gesellschaft ist soziale Exklusion also genau die negative Kehrseite der modernen Gesellschaft, als die sie in der aktuellen politischen Diskussion auch begriffen wird. Soweit die "Informationsgesellschaft" aufgefaßt wird als eine Form der modernen Gesellschaft, erweist sich der Ansatz von SOWING als berechtigt, beide Begriffe im Zusammenhang zu sehen. Darüber hinaus ergibt es einen Sinn, diesen Zusammenhang mit dem Vergleich unterschiedlicher Regionen zu verbinden, weil die Social Exclusion als Abtrennung von den global agierenden Funktionssystemen vor allem regionale Unterschiede erwarten läßt. Drittens gibt diese theoretische Perspektive Hinweise, worauf die Untersuchung der Social Exclusion zu achten hat: Es ist unwahrscheinlich, daß sie die extreme Form einer Abtrennung von allen Funktionssystemen annimmt. Deshalb ist es wichtig, die übriggebliebenen zu identifizieren, weil sie die einzige Brücke für die Rückkehr zur normalen Teilnahme an der Gesellschaft darstellen.


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Stand: 22.11.2000 - Bemerkungen und Kommentare bitte an: armin.grunwald@kit.edu